Theoretische Einführung zur Ausstellungseröffnung "Ausg'schpuckt von Dr. Andreas Zajic 

Waidhofen/Ybbs, KulturPendel, am 13. August 2004 

 

Kaugummi ist ein multifunktionaler Gegenstand. Schon die etwas unbestimmte Bezeichnung als „Gegenstand“ zeigt Ihnen, wie vorsichtig man sich dem Kaugummi als Objekt begrifflich nähern muss. Im ersten Stadium seines potentiellen Konsums oder, allgemeiner gesprochen, seiner Rezeption, begegnet er in am ehesten festem Aggregatzustand, freilich nicht ohne eine ganz spezifische Elastizität, die durch das Einspeicheln und mechanische Verdichten und gleichzeitige Bieg- und Fügsammachen des Kaugummis noch erheblich verstärkt wird. Mit dieser aus praktischer Erfahrung gewonnenen dilettantischen Beschreibung befinde ich mich übrigens im Einklang mit gängigen lexikalischen Definitionen des Kaugummis. Meyers enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden etwa, dem der Kaugummi wenigstens seit 1974 ein eigenes Lemma wert ist, versteht unter dem Kaugummi  „eine feste, durch Kauen gummiartig werdende Masse aus Chiclegummi oder synthet. Gummistoffen unter Zusatz von Zucker und Aromastoffen. Die durch das Kauen freiwerdenden Aromastoffe wirken erfrischend und durstlöschend; sie werden vom Körper aufgenommen. Die Gummimasse kann nicht verdaut werden“. Unversehens sind wir mit unserer zunehmend liebevolleren Betrachtung eines unterschätzten Alltagsgegenstandes schon bei einer der wohl am deutlichsten intendierten, also von seinen Erzeugern regelrecht vorgesehenen Verwendungsweisen des Kaugummis angekommen, nämlich dem Kauen, nicht aber dem Konsum, also eigentlich dem Schlucken des Kaugummis. Mit dem Abschließen des Kaugenusses (meist ausgelöst vom Gedanken, der Kaugummi schmecke jetzt allmählich „fad“ oder eigne sich nicht mehr zum Blasenproduzieren) ist also der Kaugummi am Ende seiner modellhaft vorgesehenen Laufbahn angelangt. Die Feinfühligeren von Ihnen ahnen bereits die stille Tragik, die in der Tatsache liegt, dass Kaugummis den größten Teil ihres Lebens im Grunde als Nachleben fristen, also die Fortdauer nach Erfüllung ihres ursprünglichen Zwecks in vielen Fällen wesentlich länger ist als die eigentliche Nutzung. Nur wenige Kaugummis werden ja unmittelbar nach Gebrauch (um einen Verzehr handelt es sich keineswegs, somit stellt der Kaugummi auch kein Nahrungsmittel dar), vielleicht sogar ordnungsliebend im schon ursprünglich schützend umhüllenden Stanniolpapier wieder eingewickelt und achtsam entsorgt. Diese Kaugummis haben tatsächlich den ihnen zugedachten kurzen Lebenslauf voll erstreckt und verweisen somit ganz auf ihren ephemeren, kurzlebigen Charakter. Meiner eigenen subjektiven Einschätzung zufolge bleiben aber weit mehr als die Hälfte aller gebrauchten Kaugummis im weiteren Umlauf. Dieses zweite Leben weist deutlich über den puren Zweckcharakter des Kaugummis hinaus und verleiht ihm dauerhafte, bisweilen monumentale Größe. Sicherlich wird an diese von mir dem Kaugummi unterschobene Größe niemand denken, der etwa als Schüler einmal unter der Tischplatte seines Schreibtisches bei nervösem Herumtasten in ein mehr oder weniger angejahrtes, aber unverändert gut haftendes Exemplar gegriffen hat. Man halte sich aber vor Augen, an wie vielen Tischunterseiten in Österreichs Schulzimmern Kaugummis kleben, und man muss automatisch Achtung vor einer Subkultur des Ephemeren und der Bedeutung des Kaugummis für die Sozialisation des Kindes in der Schule bekommen. (Ähnliche Betrachtungen für Bibliotheksarbeitsplätze, Kirchenbänke, Wirtshaustische usw. anzustellen, überlasse ich jedem Einzelnen). Ich stelle übrigens ad hoc die These auf, dass sich alte Kaugummis zumindest theoretisch an der Unterseite jedes Tisches finden lassen, dessen Oberfläche zugleich als Träger von geritzten, gekratzten, gemalten und gravierten Graffitis dient. Für die Mitteilung von Ergebnissen aus zukünftigen Einzelnachforschungen, die auf diese implizite Anregung zurückgehen, wäre ich Ihnen dankbar.

Zum wahrhaft großen Schicksal des nicht vorgesehenen Nachlebens des Kaugummis kommt aber noch, dass er selbst im Zustand seiner Ausrangiertheit ein Eigenleben zu führen scheint. Selbst als Natura morte ist er noch imstande, seine Aggregatzustände zu wechseln. Groß ist die Erleichterung des unter die Tischplatte greifenden Schülers, dessen Hand auf einen ausgetrockneten alten Kaugummi trifft, noch größer der Ärger beim frischen Relikt. 

Personen, die sich etwa im Kinosessel auf einen rezenten Kaugummi des Vorgängers gesetzt haben, wird in hilfreichen Ratgebern übrigens gerne geraten, das gummierte Kleidungsstück kurze Zeit in den Tiefkühler zu legen, um den vor Kälte erstarrten Kaugummi vom Textil wieder ablösen zu können. Eine Überlistung des Kaugummis also durch zwangsweise Einflussnahme auf seinen Aggregatzustand. 

Heimito von Doderer hat in seinem Roman „Die Merowinger“ die Auslösung von kleinen und größeren Wutanfällen durch Missgeschicke und Ärgernisse mit Objekten des Alltags auf das Wirken von Agenten der geheimnisvollen Untergrundorganisation Hulesch & Quenzel zurückgeführt. Ein Beispiel, damit Sie im Bilde sind: Die Verschlusskappen von Zahnpastatuben, die Ihnen beim frühmorgendlichen Versuch, die Tube wieder zu schließen, aus der Hand fallen und unter die Waschmaschine springen, stammen ebenso wie die schlecht angenähten Hemd- und Hosenknöpfe, die genau dann abreißen, wenn Sie es eilig haben, aus dem Produktkatalog der Firma Hulesch & Quenzel, die solcherart die unwissentlich damit belieferten Kunden langsam in den Wahnsinn treibt. 

Ein bei Doderer noch nicht erwähntes weiteres Erfolgsprodukt dieser Gesellschaft ist nun zweifellos der sich ins Schuhprofil tief einprägende Gehsteigkaugummi, ein dem Gehsteighundeexkrement an Infamität zwar unterlegenes, seine größte Wirksamkeit aber ebenso wie dieses im Sommer unter längerer Sonneneinstrahlung entfaltendes Objekt.

Gerade dem gewissermaßen archäologischen Kaugummi dieser Art scheint nun Pius Litzlbauer seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Schon der Titel der Ausstellung („Ausg’schpuckt“) verweist meiner Ansicht nach deutlich auf diese Kaugummientsorgungsvariante; die erwähnten Tischplattenkaugummis werden ja zielgerichtet von Hand an ihren Bestimmungsort befördert, während die Bodenfunde wohl überwiegend tatsächlich unmittelbar aus dem Mund auf den Gehsteig gelangen dürften. Bodenkaugummis, mitunter von den Schuhprofilen derer gekennzeichnet, die sie ungewollt betreten, finden sich auch auf mehreren der heute ausgestellten Bilder. In völlig gegenständlicher und konkreter Manier erzählen diese per Fuß markierten Kaugummis Kurzgeschichten oder Kürzestausschnitte aus längeren Lebensgeschichten, wenn sie so wollen. Wer kann sagen, ob ein unfreiwilliger Kaugummitreter zwei Meter vor dem Eingang einer Bankfiliale unterwegs war, um einen Erlagschein einzuzahlen oder die Bank auszurauben? Oder stellen wir uns eine andere Situation vor: Wird der Kunde, der gerade mit einem frischen Kaugummirest an seiner Schuhsohle die Fleischhauerei betritt, eine Leberkässemmel, oder – was für jeden Eingeweihten einen ganz gewaltigen Unterschied bedeutet und eine völlig andere Denkweise verrät – eine Käsleberkässemmel verlangen? Und – kann uns der vor der Tür verbliebene ursprüngliche Kaugummiteil darüber wirklich Aufschluß geben?

Der Antwort auf diese Frage wollen wir uns gar nicht weiter nähern. Wenn Kaugummis tatsächlich Geschichten erzählen, dann verfremdet Pius Litzlbauer diese Geschichten wiederum, indem er die Bilder dieser Kaugummis verfremdet. Eine Kürzestgeschichte der gerade angedeuteten Art, in sich mehr oder weniger geschlossen, wird in einen anderen Zusammenhang versetzt oder bleibt isoliert stehen. Thomas Bernhard, in dessen Büchern sich oft eine beharrliche Weigerung findet, überhaupt eine Geschichte im Sinne einer romanhaften Handlung zu erzählen, wurde gerne der Geschichtenzerstörer genannt. Ist Pius Litzlbauer ein Geschichtenzerstörer der Bildenden Kunst? Jedenfalls ist er in gewisser Hinsicht ein Bilderzerstörer, ein Ikonomach. Mehr noch ist er aber ein Bildschöpfer, der zwei Ebenen verschränkt: aus der Zerstörung der literarischen Geschichten, von denen wir behaupten, dass sie von einem Kaugummi erzählt werden könnten, macht er neue Bildgeschichten, auch wenn sie sich durch Abstraktion der Form, ausgeprägte Farbigkeit und Farbinversion sowie die Verfremdung durch extreme Überdimensionierung auf den ersten Blick als gar nicht lesbar zeigen. Allerdings fügt Litzlbauer den an sich real-gegenständlichen Objekten mehrfach durchaus graphische Kommentare in Form von Kreuzen oder vektorenartige Pfeilen hinzu. Ob Sie aus den Bildern eine Geschichte, ihre eigentliche Vorgeschichte, lesen können oder wollen, bleibt jedoch allein Ihrer Phantasie und Imagination überlassen.

Zuletzt noch eine kurze Bemerkung zu einer eingangs nicht gestellten dritten Frage, die vielleicht manche heute nicht Anwesende für sich im Stillen und auf kurzem Wege beantwortet haben: Was ist daran Kunst, Kaugummis zu fotografieren?

Vor vielen Jahren, als Josef Hader noch von Zeit zu Zeit mit neuen Kabarettprogrammen auftreten konnte, erntete er bei der Aufführung von „Hader im Keller“ Lacherfolge mit der Schilderung einer Ausstellung, bei der ein Künstlerehepaar Kinderspielzeug aus Getreidebrei und Fotos von Hundekot aus verschiedenen Metropolen präsentierte. 

Fotos von Kaugummis sind keineswegs lächerlich. Selbst ganz abseits ästhetischer und künstlerischer Fragen zeigt die notwendige vorangehende Arbeit am Objekt eine liebevolle Auseinandersetzung mit ansonsten unbeachteten und dadurch in ihrer Bedeutung erhöhten Realien. In dieser Hinsicht leistet Pius Litzlbauer mit dieser Ausstellung nicht nur einen künstlerischen Beitrag, sondern auch einen Beitrag zu einer immer mehr im Bereich der Kulturwissenschaften präsenten Dispziplin: der Archäologie des Alltags.

Treten Sie also jetzt den Bildern näher und werfen Sie allfällige mitgebrachte Kaugummis bitte auf den Boden.